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2011/04/06 Vorratsdatenspeicherung ist Beginn präventivstaatlicher Maßnahmen
Hans G. Zeger
Die Speicherung des Telefonier- und Internetverhaltens aller Bürger ist die erste präventivstaatliche Maßnahme - Vorratsdatenspeicherung gefährdet die Grundfunktionen modernen Zusammenlebens - unbeobachtet Ideen zu entwickeln, zu wirtschaften ist die Grundlage für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft - Österreich zeigt sich wild entschlossen Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit aufzugeben und erlaubt billigen Sieg des Fundamentalismus

Als Vorratsdatenspeicherung wird die präventive Erfassung des Telefonier- und Internetverhaltens der gesamten Bevölkerung aus sicherheitspolizeilichen Gründen verstanden. Alle Bürger, die moderne Kommunikationsmittel nutzen, kommen damit automatisch in den Generalverdacht, diese Kommunikationsmittel zu missbrauchen und für kriminelle Zwecke zu verwenden. Es wird in Zukunft genügen "verdächtige" Telefonnummern anzurufen oder auch schlicht "verdächtiges" Telefonierverhalten zu haben, um ins Visier polizeilicher Ermittlungen zu kommen.

Manfred Rupp, Referent für "strategische Kriminalanalyse" im Bundeskriminalamt präsentiert bei Vorträgen regelmäßig stolz Beispiele zur Telefonüberwachung, bei denen bei fünf überwachten Anschlüssen tausende andere Telefonanschlüsse, die mit dem Kriminalfall gar nichts zu tun haben, mitüberwacht werden (http://ftp.freenet.at/int/bka-rupp-datenanlyse.pdf).


Vorratsdatenspeicherung geht in die nächste Runde

Nach den heftigen Protesten zum ersten Entwurf eines österreichischen Vorratsdatenspeichergesetzes im Frühjahr 2007 wurde das Gesetzesvorhaben vorerst auf Eis gelegt (http://www.freenet.at/). Nach der Anfang 2009 vom EuGH abgewiesenen Klage Irlands gegen die EG-Richtlinie 2006/24/EG, soll nun auch in Österreich ein datenschutz- und menschenrechtlich "ordentliches" Gesetz geschaffen werden.

Eine Ankündigung, die wie eine gefährliche Drohung wirkt. Es gibt schlicht kein Szenario, das einen präventiven Generalverdacht von unbescholtenen Bürgern mit den Grundsätzen der UN-Charta für Menschenrechte oder der europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar macht.

Tatsächlich ist das Recht unbeobachtet sein Leben zu gestalten, wirtschaftlich tätig zu sein, seine Meinung zu äußern und neue Ideen zu entwicklen, nicht bloß ein relativierbares Menschenrecht, sondern notwendige Voraussetzung einer entwickelten Gesellschaft. Unsere Gesellschaft ist darauf angewiesen durch Versuche, Irrtum und Fehler zu neuen Erkenntnissen, neuen Entwicklungen und neuen Produkten zu kommen. Stehen alle Menschen unter Kontrolle, müssen sie fürchten, dass neue, unausgegorene Ideen missverstanden werden, dass ihr Verhalten als "verdächtig" eingestuft wird, werden sie sich zu angepasstem Verhalten entscheiden, der Mut zu Innovationen wird verschwinden.


Jeder kann verdächtig werden

Kaum jemand macht sich Gedanken darüber, welche Interpretationen sein Telefonierverhalten auslösen kann. Wozu auch, jeder weiß genau, warum er welches Telefonat geführt hat. Der Ermittler, der den Täter auf Grund formaler Muster ausforschen möchte, hat einen anderen Zugang.

Viele kurze Telefonate mit vielen verschiedenen, aber wiederkehrenden Telefonnummern? Ein typisches Muster von Drogendealern, die mit ihren Kunden Abholtermine vereinbaren. Mehrere lange Telefonate mit der Telefonnummer einer Zeitungsredaktion? Hinweis auf Geheimnisverrat. Viele eingehende Anrufe von immer neuen Anschlüssen beim Handy einer Frau? Verdacht der Geheimprostitution bzw. Verdacht, dass sie dazu gezwungen wird (=Menschenhandel). Regelmäßig wiederkehrende Ketten von Anrufreihenfolgen? Möglicherweise organisierte Kriminalität oder Terrorismusvereinigung mit genau definierten Informations- und Befehlsstrukturen.

Regelmäßige Anrufe bei einer liechtensteinischen oder schweizer Bank? Verdacht auf Geldwäsche, Steuerhinterziehung großen Stils oder Terrorismusfinanzierung.
Endlos ließe sich die Liste verdächtiger Telefonmuster fortsetzen.

Nichts muss zutreffen, doch der ins Visier gekommene Bürger steht vor dem Problem Handlungen rechtfertigen zu müssen, die ihm bisher nicht einmal als problematisch bewusst waren.

Vom Verdacht werden früher oder später Angehörige, Freunde, Arbeitskollegen, Arbeitgeber oder sogar die Öffentlichkeit erfahren. Der eigene Ruf wird unwiederbringlich beschädigt sein, auch wenn sich ein Verdacht nachträglich als unbegründet erweist. Zahllos sind die Beispiele der letzten Jahre, in denen Polizisten "Verdächtige" lautstark am Arbeitsplatz aufsuchten und damit zwangsläufig den Arbeitgeber über einen, nachträglich völlig haltlosen Verdacht, informierten.

National erregte die Intrige im Wiener Polizeiapparat Aufsehen, in der durch gelegte und bewusst falsch interpretierte Verdachtsmomente die Karriere eines hochdekoriertern Polizisten regelrecht "abgeschossen" wurde. International sei auf die schwarze EU-Liste hingewiesen, Personen die einmal auf dieser Liste, wenn auch ungerechtfertigt standen, erleben eine Art Todesurteil, stellte der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats Dick Marty fest. Ganz zu schweigen von den Guantanamo-Häftlingen, die nunmehr freigelassen, enorme Schwierigkeiten haben, überhaupt in einem Land leben zu dürfen, vom Aufbau einer menschenwürdigen Existenz ganz zu schweigen. "Vielleicht war ja am Verdacht doch etwas dran", ist der Tenor präventiv denkender Politiker, Polizisten oder Bürger.

Dieser Restverdacht, man konnte zwar nichts beweisen, kann aber - aus prinzipiellen Gründen - auch nicht jede Lebenssekunde dokumentieren, wird sich durch eine Vorratsdatenerfassung bei immer mehr Menschen häufen. Wenn, so die gut fundierte Theorie der "kleinen Welt", alle Menschen mit allen über sechs "Ecken" in Kontakt stehen, muss es bei jedem Menschen zwangsläufig nach wenigen Schritten auch einen Kontakt zu Kriminellen oder Verdächtigen geben. Werden große Datenmengen angehäuft, steigt die Zahl unplausibler Kombinationen und Verbindungen überproportional stark an.


Präventivüberwachung muss zwangsläufig ausgedehnt werden

Wird der Weg des Generalverdachts und der Präventivüberwachung einmal beschritten, muss er zwangsläufig immer weiter gegangen werden. Es wäre unlogisch und gegenüber anderen Verbrechensopfern unfair, wenn beispielsweise die Aufklärung von Straftaten davon abhängen würde, ob Daten aus einer Liste eine Stunde länger oder kürzer zur Verfügung stehen. Wenn es Sinn macht, KFZ-Kennzeichen automatisiert zu erfassen, um flüchtige Täter zu identifizieren, dann ist es unlogisch nur dann Bilder zu verwenden, wenn der Täter an einer Radarbox zu schnell vorbei fährt. Besser ist es alle vorbeifahrenden Fahrzeuge zu erfassen.

Wenn alle erfasst werden, dann ist es unsinnig, nur einen gerade flüchtigen Bankräuber fassen zu wollen. Warum sollte nicht auch der wegfahrende Einbrecher identifiziert werden. Da jedoch Einbrüche in der Regel erst nachträglich festgestellt werden, wird es notwendig sein die Daten zumindest bis zum nächsten Tag aufzubewahren.

Wer auf Verdacht Datenbestände nach Auffälligkeiten durchforstet, wird vor dem Problem stehen, Auffälligkeiten und unplausibles Verhalten nicht präventiv feststellen zu können. Erst nach einer Tat kann ein bestimmtes Reise- oder Telefonierverhalten einen möglichen Täterhinweis geben. Längere Aufzeichnungen lassen darüber hinaus ebenfalls bessere Rückschlüsse auf Täterneigungen zu.

Warum sollte aber ein Einbruch in einem Wochenendhaus, der am Montag stattfindet und erst am Freitag entdeckt wird, nicht aufgeklärt werden können, nur weil die Daten schon am Dienstag gelöscht werden? Wer einbricht, wer einen Überfall macht, kundschaftet den Tatort in der Regel vorher aus. Zum Tatzeitpunkt wird der Täter möglicherweise vermummt sein, ein gestohlenes Fahrzeug nutzen oder andere Maßnahmen gegen eine Identifikation setzen, nicht so bei der Auskundschaftung. Schon bei diesen Erkundigungen muss die Aufzeichnung des späteren Täters gesichert werden. Warum sollte der flüchtige Täter nur auf der Autobahn überwacht werden und nicht auf jeder Straße?

Wer glaubt, durch das präventive Sammeln von KFZ-Kennzeichen Straftäter entdecken zu können, muss früher oder später das gesamte Verkehrsverhalten auf unbestimmte Zeit aufzeichnen. Wer die verdachtsunabhängige Durchforstung von Datenbeständen als Ermittlungsmittel akzeptiert, landet bei der unbegrenzten Speicherdauer aller Daten, nicht nur der Telefon- und Internetdaten.

Jedes Verhalten eines Bürgers kann verdächtig sein und auf kriminelle Vorhaben hindeuten, egal ob es sein Reiseverhalten ist, seine Finanzgebahrungen, was er anzieht oder was er konsumiert. Wer zu Präventivüberwachung von Telefonie und Internet ja sagt, muss auch zur Präventivüberwachung des Reiseverhaltens, des Straßenverkehrs, von Geldabhebungen und Finanztransaktionen, des Einkaufsverhaltens und jeder Art sozialer Kontakte ja sagen.

Auch die zentrale Speicherung all dieser Daten, wie sie in Großbritannien angestrebt und in Deutschland diskutiert wird, ist zwangsläufige Konsequenz dieser Logik. Nur auf diese Weise sind die Daten rasch genug für Analysen zur Hand.

Nicht Überwachungswahn, politischer Missbrauch von Datensammlungen oder Zweckentfremdung der Daten sind das Problem. Die innere Logik eines auf totale Sicherheit orientierten Präventivdenkens führt zur totalen Kontrolle. Politik und Polizei die Sicherheit versprechen, werden zu Getriebenen ihrer eigenen Logik.


Vom Überwachungsstaat zum Präventivstaat

Österreich ist längst ein ausgeprägter Überwachungsstaat. Hunderte Listen und Evidenzen sorgen dafür, dass jede Lebensbewegung eines Bürger registriert und verwaltet wird. Bisher waren diese Evidenzen an bestimmte Aufgaben und Zwecke gebunden, für die Gesundheitsvorsorge, zur Steuereintreibung oder zur Dokumentation seines Familienstandes.

Die neuen Vorratsdatensammlungen stellen jedoch Bürger präventiv unter Generalverdacht. Erstmals seit Ende des DDR-Regimes wird in Europa die vorbeugende Datensammlung aller Bürger zu ausschließlich sicherheitspolitischen Zwecken installiert. Damit verlassen europäische Staaten die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit. Wesentlicher Teil dieser Rechtstaatlichkeit ist die Unschuldsvermutung und die Garantie solange unbeobachtet von polizeilicher Überwachung leben zu können, solange kein unmittelbarer Verdacht eines persönlichen kriminellen Fehlverhaltens besteht. Die Vorratsdatenspeicherung kehrt die Unschuldsvermutung um. Jeder Bürger muss in Zukunft rechnen, dass sein Internet- oder Telefonierverhalten ein verdächtiges Muster hat und er wird dann beweisen müssen, dass er zu Unrecht beschuldigt wird.

Länder, die bisher auf rechtsstaatliche Prinzipien und den Schutz des Vertrauens der Bürger pochten geben diese Grundsätze nunmehr leichtfertig auf, ohne Aussicht durch diese Maßnahmen tatsächlich wirkungsvolle Beiträge zur Terrorismusbekämpfung zu leisten. Täter, Personen, die wissen, 'dass sie etwas zu verbergen haben' können die Überwachungsmaßnahmen leicht umgehen.


Billiger Sieg des Fundamentalismus

Ein Staat der einer gewiss vorhanden Bedrohung durch Terrorismus nichts anderes entgegen zu setzen hat, als alle seine Bürger unter Generalverdacht zu stellen, liefert Fundamentalisten und Terroristen einen völlig überraschenden Sieg. Ganz ohne Selbstmordanschläge, ganz ohne Risiko für die Terroristen gefasst und verurteilt zu werden.

Die vorschnelle Preisgabe grundlegender Funktionsprinzipien der Gesellschaft, ihrer Grundwerte führt allen Fundamentalisten die Geringschätzung menschenrechtlicher Grundwerte vor Augen und bestätigt sie in der Ablehnung dieser Art "westlicher Zivilisation". Mit der Präventivüberwachung schreckt man keine Sympathisanten ab, sondern bestätigt sie in ihrem Weg in Richtung Fundamentalismus.

Die Vorratsdatenspeicherung ist Armutszeugnis und Bankrotterklärung von Rechtsstaaten, ein billiger Sieg, den sich die Attentäter der letzten Jahre und ihre ideologischen Anführer nicht hätten träumen lassen.


Nachtrag

Vom SP-Abgeordneten Mag. Johann Maier erreichte uns auf Grund dieses Artikels eine Stellungnahme zur Vorratsdatenspeiceherung: http://ftp.freenet.at/privacy/gesetze/spoe-stellungnahme-vorr...

mehr --> Änderung SPG + StPO zur Vorratsdatenspeicherung
andere --> http://derstandard.at/1297216314225/Vorratsdatenspeicherung-Wir-steuern-einem-Pa...
mehr --> Parlamentarische Bürgerinitiative/Onlinepetition gegen Vorratsspeicherung
mehr --> Bericht des Justizausschusses zur Vorratsdatenspeicherung
mehr --> Buchtipp! "MENSCH. NUMMER. DATENSATZ. Unsere Lust an totaler K...
mehr --> http://www.hostmaster.org/vorratsdatenspeicherung_und_mafiaparagraph
mehr --> Regierungsvorlage Vorratsdatenspeicherung 22.2.2011
mehr --> EU-Infoseite zur Vorratsdatenspeicherung 2006/24/EG
mehr --> Stellungnahme SP-Abgeordneter Mag. Johann Maier
mehr --> EG-Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung - pdf-Version
mehr --> Schreiben Sie den Politikern Ihre Meinung zur Vorratsdatenspeicherung
mehr --> Protestieren Sie gegen die geplante Vorratsdatenspeicherung!
mehr --> Mehr zum Thema "Vorratsdatenspeicherung"
mehr --> BKA-Beispiel zur "präventiven" Telefondatenanalyse
Archiv --> EG-Richtlinie 2006/24/EG - VORRATSDATENSPEICHERUNG von EU besc...
Archiv --> Österreich übte Schauprozess - Zweite Runde im "Terroristen"-V...
Archiv --> Vorratsdatenspeicherung - eine sicherheitspolitische Sackgasse
Archiv --> http://neuwal.com/index.php/2010/08/13/vorratsdatenspeicherung_hans-zeger/
Archiv --> Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
Archiv --> Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - UN Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948
Archiv --> Maßnahmen um Vorratsdatenspeicherung zu umgehen
andere --> Statistik/Graph Unterzeichner Onlinepetition/Bürgerinitiative Parlament
andere --> Parlamentarisches Verfahren Vorratsdatenspeicherung
andere --> Parlamentarisches Verfahren Strafprozessordnung 1975 (StPO) + Sicherheitspolizeigesetz (SPG)
andere --> BGBl. I Nr. 27/2011 - Änderung des Telekommunikationsgesetzes 2003 - TKG 2003
andere --> Presseaussendung des Parlaments am 28.4.2011 zum Beschluss der Vorratsdatenspeicherung
andere --> Telekommunikationsgesetz (TKG) - Stand 2012 inkl. Vorratsspeicherung

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