2004/11/18 Digitale Biometrie - Der Weg in die Alibigesellschaft
Weiterhin keine praxistauglichen biometrischen Verfahren in Sicht - EU-Reisepassinitiative bleibt populistischer Aktionismus - Statt wirksamer Kriminalitätsbekämpfung werden Bürgerrechte in Frage gestellt - Zum flächendeckenden Einsatz von Biometrie müssen Normalbürger mit massiven Belästigungen und Einschränkungen ihrer Privatsphäre rechnen
Weiterhin keine praxistauglichen biometrischen Verfahren in Sicht
Am Freitag soll endgültig die Einführung eines Reisespasses mit digitalisierten biometrischen Merkmalen auf EU-Ebene beschlossen werden. Geplanter Einführungstermin ist 2007 bzw. 2008. Bei diesen geplanten Biometriemaßnahmen (digitales Foto oder digitalisierter Fingerabdruck im Chip eines Reisepasses) handelt es sich bei genauerer Analyse um billigen Populismus, mit dem die Bevölkerung bewusst in die Irre geführt wird und Steuergelder verschwendet werden.
Um das System zur Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung tauglich zu machen, müssten Leben und Verhalten aller Bürger polizeistaatlichen Regeln unterworfen werden und praktisch alle Grundrechte der letzten 200 Jahre gekippt werden. Insbesondere das Recht unbehelligt leben zu dürfen, wird Seltenheitswert erlangen. Der OGH hat in mehreren Urteilen (80ObA288/01p oder 7Ob89/97g) festgestellt, dass ein Berühren der Menschenwürde bzw. ein Eingriff in die Privatsphäre schon dann vorliegt, wenn mit technischen Mitteln die zur Überwachung geeignet sind, das Gefühl der Überwachung erzeugt wird, auch wenn die Überwachung noch gar nicht durchgeführt wurde.
Hans G. Zeger: "Schon allein um zuverlässig 'gut' digitalisierbare Fingerabdrücke zu bekommen, müsste die Bevölkerung verpflichtet werden, immer mit sauberen Fingern herumzulaufen, nicht allzu starke Fettcremes zu verwenden und jede Arbeit oder Freizeitaktivität zu meiden, die zu Verletzungen der Fingerkuppen führen könnten. Schon das allzu heftige Spielen der e-Guitarre mit anschließenden Blasen an den Fingerkuppen, könnte in Hinblick auf die neuen Reisepassaktivitäten als terrorverdächtige Vorbereitungshandlung gesehen werden oder zumindest die Einreise in Länder, die die Fingerabdrucke auswerten, verhindern. Als verdächtiges Verhalten könnte schon das Tragen von Handschuhen interpretiert werden."
Sicherheitshalber wird man Meldepflicht für Bartträger, Brillenträger, Haftlinsenträger, bei Schönheitsoperationen, körperlichen Veränderungen, eingeschnittenen Fingern, .... einführen. Auch eine allgemeine Kooperationspflicht beim öffentlichen Zurschaustellen des Gesichts, und Verwendung der Finger wird man früher oder später vorschreiben müssen. Einzelne EU-Länder beschränken schon jetzt das Tragen von Kopfbedeckungen im öffentlichen Raum (vom Kopftuchverbot in Schulen einmal abgesehen). Wohl auch eine Verpflichtung, sich nicht allzugroßen physikalischen Schwankungen (Temperatur, Feuchtigkeit, ..) auszusetzen und zeitliche Änderungen im Aussehen zu berichten, wird vorzusehen sein.
Technik steckt in den Kinderschuhen
Es gibt derzeit keine einzige funktionierende biometrische Installation im "offenen Feld", bloß in geschlossenen Sicherheitsumgebungen für relativ kleine Personengruppen. Es wird nie offene Lösungen geben, sondern man müsste aus den teilnehmenden Staaten Hochsicherheitsgefängnisse machen und viele Verhaltensweisen als unzulässig einstufen, insbesondere die Reisefreiheit - innerstaatlich, als auch zwischen den Staaten müsste massiv reguliert werden.
Die bisherigen Biometrie-Lösungen sind hochgradig störanfällig, relativ leicht fälschbar, ungenau (Bilderkennung 65-99% Fehlerrate, Fingerabdruck immerhin noch 1-10%) und sehr leicht umgehbar. Chipkartenfälschungen wurden schon vor einigen Jahren um 170.000 ATS angeboten.
Statt wirksamer Kriminalititätsbekämpfung werden Bürgerrechte aufgegeben
Flächendeckende biometrische Kontrolle, die zur Kriminalitätsbekämpfung erforderlich wäre, ist mit den derzeitigen rechtsstaatlichen Instrumentarien unmöglich, es geht derzeit nur um psychologische Einschüchterung und dem Erzeugen einer permanenten Alarmierung der Gesellschaft und einer Un-Sicherheitsstimmung bei der eigenen Bevölkerung. Dem bloß oberflächlich informierten Konsumenten wird Glauben gemacht, wenn er den Fingerabdruck hinterläßt, dann trägt er dazu bei Terroristen zu fangen.
Die digitale Biometrie zeigt eine ganz offen zur Schau getragene Verquickung von Politk und wirtschaftlichem Lobbyismus, die den Politikern Aktionismus erlaubt und den Biometrieinvestoren sicheren, staatlich garantierten Profit für Produkte gewährleistet, die ansonsten nur einen winzigen Anwendungsbereich hätten.
Biometrische Merkmale sind, da sie unfreiwillig hinterlassen werden, ideale Instrumente zur Stöberfahndung. Werden sie massenhaft gespeichert, erlauben sie das Erstellen von idealen Bewegungsprofilen. Wer hat sich mit wen wo aufgehalten? Besonders für den Bereich der Wirtschaftsspionage kann Biometrie hilfreich sein. Welcher Siemensmanager reiste mit wem zu welchen US-Firmen? Die bestehenden Fehlerquoten von 10% und mehr stören dabei nicht, da ja nicht ein bestimmtes Individuum gesucht wird, sondern irgendein "interessantes" Verhalten, egal von wem, zu finden.
Werden die digitalisierten Daten vernetzt ist auch Identitätsdiebstahl oder - wahrscheinlicher - die Korrumpierung von Identitäten möglich. Auch die Wissenskriminalität (wer wo wann) wird durch Biometrie erheblich erleichtert.
Technische Fehlerhaftigkeit fördert zusätzlich Grundrechtsverletzungen
Die Eingriffe in die Privatsphäre sind dabei völlig unabhängig vom tatsächlichen Funktionieren der biometrischen Systeme. Auch Systeme mit sehr hohen Fehlerraten führen zu massiven Grundrechtseingriffen, da dann noch mehr Menschen "identifiziert" werden, in den Verdacht unzulässiger Handlungen kommen und in das Visier polizeilicher Ermittlungen geraten.
Bisher benötigte die Polizei materielle Anknüpfungspunkte um gegen eine Person zu ermitteln (sogenannte Indizien oder Sachbeweise), in Zukunft genügt die bloße Anwesenheit an einem bestimmten Ort zu einem beliebigen Zeitpunkt, biometrische Spuren sind rasch hinterlassen.
Dies wird zu einem enormen Rechtfertigungsdruck führen, warum sich Personen auf bestimmten Plätzen (z.B. Lokalen) aufgehalten haben. Nach der Seitenblickegesellschaft steuern wir in die Alibigesellschaft, in der in Zukunft nur der als unbescholten gilt, der ein lückenloses digitales Bewegungsprofil vorlegen kann.
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